Ein weteres Mem zum Thema «alternative Wahrheiten», das die Verständigungsprobleme auf den Punkt bringt.
Das Massstabs-Dilemma
Für über 25 Jahre war ich ein überzeugter Verbreiter «alternative Wahrheiten». Dass wir die Natur in erheblicher Weise vergiften und aus dem Geichgewicht bringen würden und unbegrenztes Wachstum in begrenztem Umfeld ktastrophal enden müsse. Gedeckt wurde meine Ansicht von ominösen, querdenkenden Wissenschaftlern, die für Greenpeace arbeiteten. Oder Philosophen, die nicht nur ausserhalb der Box dachten, sondern diese komplett vergessen hatten. Unsere Mitweltzerstörung ist nun allgemein anerkannter Fakt und ich muss schon erheblich Alarmistik betreiben, um nicht müde weg genickt zu werden.
Woher nehme ich nun die Gewissheit, dass nicht was heutzutage als «alternative Wahrheit» angepriesen wird die Evidenz von morgen ist? … Weil sie eben evident nicht ist. Die geziehlt disruptive Propaganda kann nur in sich selbst funktionieren, indem verborgen suggeriert wird, der Faktor von 2.54 (Zoll/cm; Anmerkung der Redaktion) wäre entweder nicht fix, nicht existent oder konstant anders.
Die Beweisführung ist hier äusserst simpel: Ich eiche zwei Massstäbe, deren Echtheit unzweifelbar ist. Wenn nun der eine Massstab das Verhältnis der Kohlenstoffisotope 12C und 13C in der Atmosphäre, der andere die globale Temperaturentwicklung misst und vergleicht, ist zwangsläufig alles blosser Glaube, dem nicht jahrelanges Studium voraus ging. Ich kann nicht mehr als laienhaft eine teilweise, unscharfe Plausibilität prüfen. Ich praktiziere Glaube.
Datenbasis und Statistik
Glücklicherweise ist es nicht so hoffnungslos. Zwar lassen sich Statistiken tatsächlich auf einfache Weise den eigenen Bedürfnissen abpassen; das gilt aber nicht für Datenbasen. Eine äusserst breite solche wie zum Beispiel die der globalen Luft- und Wassertemperaturmessungen lassen sich nicht so manipulieren, alsdass Algorythmen die Irregularitäten nicht finden könnten. Raffiniertere Fälschungen benötigen schlicht ausgeklügeltere Analysemethoden. Es ist das Selbe wie das Hacken von Passwörtern: Es gibt kein absolut sicheres.
In diesem Zusammenhang ist eine entscheidende Erkenntnis, dass eine Statistik selbst nicht gefälscht sein kann (!), da sie zu einhundert Prozent direkt kausal von der Datenbasis abängt. Eine Statistik kann nur Datenbasen irreführend auswerten und interpretieren – gefälscht wären allenfalls die Daten, auf denen sie beruht. Deren Unregelmässigkeiten zu entlarven ist, wie gesagt, mathematische Fleissarbeit.
So ist es entscheidend zu verstehen, wie Statistiken Grössen bilden und gegenüber stellen und wie sich inkonsistente Daten auswirken, ob nun Datenreihen unzulässig kombiniert oder inkompatible Grössen verglichen werden. Das Wissen über Distanzmessen und Umrechnen derer Masseinheiten ist Grundschulniveau – auch wenn eine NASA-Marssonde genau wegen einer solchen vergessenen Umrechnung von Zoll auf Meter drüben einer Gravitationsinsuffizienz erlag.
Kommunikation findet nur unter gleichen statt
Unsere modernen Probleme, ob chemischer, physikalischer oder sozialer Natur, entziehen sich leider dem Zollstock. Ohne elementares Verständnis der Zusammenhänge von Physik und Chemie lässt sich bei Umweltthemen keine vernünftige Argumentation führen. Ohne grundlegendes Wissen über Funktionen, Wahrscheinlichkeits-Mathematik und Spielthorie ist es nicht möglich, gefühlsfrei abstruse von konsistenten Ableitungen zu unterscheiden. Selbst mit ist es ein Spaziergang in der Schwerelosigkeit – allerdings angeleint, immerhin.
So erwische ich mich immer mehr dabei, dass ich Glaubensthesen «moderner alternativer Wahrheiten» umgehend keine Nahrung mehr biete, dafür mir ein kleines Schnipsel des akuellen Themas heraus picke und anhand dessen einen Anschauungsunterricht versuche, wie man sein eigenes Denken prüfen kann. Konsequenterweise begänne das bei der Erkenntnistheorie – wenn das Gegenüber aber nach 30 Minuten geistig erschöpft ist, lassen sich Argumentationsfundamente nur rudimentär korrigieren.
Es führt nichts an der Erkenntnis vorbei, dass es sinnlos ist, über gemessene Längen zu streiten, wenn jemand sein Zollband für metrisch hält. Kommunikation und Wissen benötigt zum Austausch gemeinsame Definitionen. Geschickt an die Hand genommen lassen sich Grundfeste neu platzieren, wo mit der Zeit irrationale Pfeiler in der Haltlosigkeit enden.
Epilog
Ist es nun überheblich, Menschen so zu betrachten? Wird es überheblich, sobald ich manipulierend wirke? Ich leiste mir als humanistischer Überzeugungstäter hier einen Anstecher ins Alte Testament: Der Zweck heiligt die Mittel. Wer nicht hören will, muss begreifen. Wer mir einen Mist erzählt, fällt selbst auf mich herein. Jede Wahrheit beginnt mit einer kleinen Manipulation. Wer den Zentimeter nicht ehrt, ist den Zoll nicht wert. Lieber die Wahrheit an der Hand als den Bhaupti auf dem Dach. Der erste Schreihals kriegt die Aufmerksamkeit, der zweite thermodynamische Satz hat immer Recht. … Ich hör‘ jetzt auf, bevor’s richtig blöd wird.